Altmark
Ersthelfer für die seelischen Verletzungen
Michael Kleemann
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Juliane Graichen, Projektleiterin
Foto: Denny Kleindienst
Seit 24 Jahren ehrenamtlich in der Notfallseelsorge tätig
Anna Lisa Oehlman
Der Stendaler Superintendent Michael Kleemann engagiert sich seit 24 Jahren ehrenamtlich als Notfallseelsorger. In belastenden Situationen ist er sowohl für Angehörige und als auch Einsatzkräfte da.
Sein Notfallseelsorge-Team war eines der ersten, die in Sachsen-Anhalt gegründet wurden. Wenn bei einem Verkehrsunfall Menschen schwer verletzt oder getötet werden, ist das ein Schock für die Angehörigen. Damit sie in dieser Situation nicht allein sind, rücken der Stendaler Superintendent Michael Kleemann und sein 25-köpfiges Team aus – und werden dabei in ihrer Tätigkeit als ehrenamtliche Notfallseelsorger zu unseren „Helden des Alltags“.
Vor 24 Jahren gründete der Pfarrer, der in Krumke bei Osterburg lebt, das Notfallseelsorge-Team im Landkreis Stendal als eines der ersten in Sachsen-Anhalt. Die ehrenamtlichen Helfer teilen sich 365 Tage im Jahr auf, damit Betroffene von belastenden Ereignissen wie Ersthelfer, Zeugen, Angehörige und Unfallverursacher Unterstützung erhalten. Nach dem Unfall besucht Michael Kleemann die engsten Angehörigen. „Wir sind der Notverband für die Seele. Als ’Ersthelfer’ können wir damit Leben retten“, erklärt er. Im Durchschnitt verbringt er eine Stunde bei ihnen. „Wenn das familiäre Netz greift, sind wir manchmal schon nach einer halben Stunde überflüssig“, hat Michael Kleemann erfahren. Mit den Betroffenen spricht er über Themen wie Tod und Sterben, die Bilder und Eindrücke vom Einsatz. Der 65-Jährige hilft mit seiner Lebenserfahrung seinem Gegenüber, sich zu stabilisieren und Orientierung sowie erste Schritte aus der Krise zu finden. „Wir gehen nur zum ersten Einsatz persönlich. Die können uns nicht später wieder anrufen. Wir wahren da die Distanz“, erklärt er. Sobald die Seelsorger gehen, ist ihr Einsatz beendet. Doch wie ist Michael Kleemann zu diesem Ehrenamt gekommen?
Persönliches Erlebnis führt zum Engagement
Der Bereich Seelsorge hat den Pfarrer von Beginn an interessiert. Schon seine Diplomarbeit schrieb er zum Thema „Wenn Kinder sterben“ und erörterte Möglichkeiten der Begleitung durch einen Gemeindepfarrer. Eine persönliche Begegnung löste bei ihm den Wunsch aus, ein Notfallseelsorge-Team zu gründen. Anlass war der Tod eines Jugendlichen bei einem schweren Verkehrsunfall. Kurz nach dem Unglück begegnete Michael Kleemann dem dortigen Feuerwehrchef. Die Worte, die er damals sagte, hat er bis heute nicht vergessen: „Vorgestern hätten wir dich gebrauchen können“.
Der Seelsorger lud sich auf eine Tasse Kaffee ein, um mit den ehrenamtlichen Helfern über den belastenden Einsatz zu sprechen. In den Gesprächen merkte er, wie dringend jemand gebraucht wird, der aus der Distanz psychosoziale Unterstützung leistet. Und eben nicht nur Opfer und Angehörige brauchen Betreuung, sondern auch die Einsatzkräfte. „Gerade, wenn Kinder zu Schaden kommen oder die Einsatzkräfte sehr drastische Bilder, Geräusche und Gerüche erleben, stehen die Notfallseelsorger ihnen zur Seite“, sagt Kleemann, der zum Teamleiter prädestiniert scheint, kennt er doch als Feuerwehrmann beide Perspektiven.
„Ein alter Kreisbrandmeister hat mal gesagt: Früher hieß der Helfer Hasseröder, heute heißt er Kleemann“ und spielt so darauf an, dass Feuerwehrleute belastende Einsätze hinterher oft mit einer Kiste Bier untereinander ausgemacht haben. Für belastende Einsätze sind die freiwilligen Helfer nicht ausgebildet.
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Ausbilder für Psycho-soziale Unterstützung
Er wollte sie unterstützen. Der Zufall spielte ihm dabei in die Karten: Auf einer Familienfeier kam Michael Kleemann mit einem Verwandten ins Gespräch, der ausgebildeter Rettungsassistent und katholischer Priester ist. Er hatte bereits Mitte der 1990er Jahre die Notfallseelsorge in Süddeutschland aufgebaut. Von dieser Idee ließ sich Kleemann inspirieren. Als er 1998 als Pfarrer nach Stendal kam, suchte er Mitwirkende für sein Projekt.
Schnell hat er festgestellt, dass es schwierig ist, mit Einsatzkräften über einen Job zu sprechen, von dem er keine Ahnung hat. „Ich dachte mir: Dann wirst du halt Feuerwehrmann“, erinnert er sich. Kurzerhand trat er in die Freiwillige Feuerwehr Stendal ein. „Ich war gelernter Berufskraftfahrer. Technik und große Lenkräder haben mich immer schon interessiert und so wurde ich Maschinist“, erzählt der Pfarrer. Während der Drehleitermaschinisten-Ausbildung am Institut für Brand- und Katastrophenschutz Heyrothsberge sprach er mit einem Dozenten über das Thema Einsatz-Nachsorge. „Uns war klar: Wir müssen uns kümmern“, sagt er.
Seit 25 Jahren bildet Michael Kleemann nun ehrenamtlich Feuerwehrleute im Bereich der Psychosozialen Unterstützung aus. Wie dringlich diese Aufgabe ist, hat ihn das Zugunglück im niedersächsischen Eschede gelehrt. Am 3. Juni 1998 entgleiste ein ICE aus München – 101 Menschen verloren ihr Leben, 105 verletzten sich, zum Teil schwer. „Das war die erste Großschadenslage, die verdeutlicht hat, dass flächendeckende Psychosoziale Notfallversorgung gebraucht wird.“ Die Einsatzkette habe perfekt funktioniert, um sich um alle körperlichen Verletzungen zu kümmern. Was jedoch fehlte, waren Menschen, die sich um die seelischen Verletzungen kümmern.
Wenn Feuerwehrleute einen schweren Einsatz erlebt haben, trifft sich Michael Kleemann mit ihnen. Maximal eine Woche nach dem Ereignis führen sie in lockerer Atmosphäre eine Unterhaltung. Er spricht über das Gesehene und Erlebte und schätzt ab, wie schwer die seelische Wunde ist. „Wenn ich eine tiefere Verletzung erkenne, vermittle ich die Betroffenen an Fachkräfte“, sagt Kleemann. Als Vermittler organisiert er mit den Betroffenen eine therapeutische oder stationäre weiterführende Behandlung, stellt Kontakt zu psychotherapeutischen Fachkräften oder Selbsthilfegruppen her.
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Wertschätzung für die Arbeit
Ein Teil seiner kirchlichen Arbeit gehört auch der Polizeiseelsorge. Dabei ist er für die Gebiete Stendal, Salzwedel und Burg zuständig. „In der Regel wissen die Einsatzkräfte, dass ich komme“, sagt er. Es sei ein Vorteil, dass er über die vielen Jahre bei den meisten Feuerwehren und Polizisten bekannt sei. „Es gibt einen gewissen Vertrauensvorschuss und eine Vertrautheit, wenn sie wissen, dass ich bereits einem ihrer Kollegen geholfen habe“, berichtet der Pfarrer. „Ich sage: Jetzt bin ich hier, ich habe Zeit für dich und lasse die Betroffenen erstmal erzählen, was sie erlebt haben“, sagt er. Dann gehen sie gemeinsam auf die Suche nach positiven Dingen, die der Einsatz mit sich gebracht hat. „Ich bin ein Diamantenschürfer, das hilft bei der Verarbeitung“, sagt er. „Es ist für die Einsatzkräfte der schönste Lohn, wenn sie sehen, dass ihr Einsatz etwas bewirkt hat“, berichtet Michael Kleemann. „Ganz häufig“, sagt er weiter, „gibt es viel Wertschätzung von den Betroffenen für unsere Arbeit.“
© Donald Lyko / Stephan Metzker / Anna Lisa Oehlmann